ZU FUSS NACH ITALIEN – TRANSALP AUF SKIERN

Wer im Winter auf Skiern die Alpen überquert, den erwartet die komplette Bergwelt: still, idyllisch – aber auch gefährlich

Bergsteiger, 02/2014

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Die Beschreibung klingt hart, doch noch härter ist für Armin Schaupps Zuhörer seine anschließende Frage. »Morgen müssen wir diesen Hang queren: 600 Meter lang, 33 Grad steil und total vereist«, erklärt der Bergführer in ruhigem Tonfall und tiefem Allgäuer Dialekt. »Wer da abrutscht, fällt über die Bergkuppe und isch mausitot.« Schaupp zeigt der Gruppe um ihn herum den Hang auf einer Karte und fragt dann: »So, wer traut sich das zu?«

Willkommen im Abenteuer. Ein bisschen davon hatten sich die acht Tourengeher ja gewünscht, als sie beschlossen, mit einem Bergführer auf Tourenski von Deutschland nach Italien zu gehen. Doch dachten sie dabei eher an Pulverschneeabfahrten und einsames Hochgebirge als an trockenes Kartenstudium, bei dem man auch noch weiche Knie bekommt.

Von dieser Vorbereitung kann Thomas Dempfle lange erzählen. Er leitet die Bergschule Oase Alpincenter in Oberstdorf und bekam dort im Laufe der Zeit immer mehr Anfragen von Gästen, die im Winter die Alpen überqueren wollten. »Also habe ich angefangen, mir viele Routen anzuschauen«, erzählt er. Zusammen mit seinen 15 angestellten Bergführern, die aus verschiedenen Alpentälern stammen, analysierte er viele Karten und erkundete vier Jahre lang an freien Tagen etliche Wege. »Wenn man das für Gäste plant, darf es nicht zu schwer sein, und du brauchst immer Ausweichmöglichkeiten, falls die Lawinengefahr in einzelnen Tälern zu groß wird«, erklärt er.

Schließlich hatte er eine passende Route für eine Fünf-Tage-Tour gefunden.
Um diese auch bei ungünstigen Verhältnissen zu untersuchen, wartete er auf den nächsten großen Schneefall. »Als der kam, und überall Lawinen abgingen, sind wir die ganze Strecke mit einem Husky Motorflugzeug abgeflogen«, erinnert er sich. Aus der Luft konnte er noch einmal überprüfen: Wo kommt man am schnellsten und kraftsparendsten durch einzelne Täler? Um wie viel Uhr trifft die Sonne auf Südhänge und weicht dort den Schnee auf? Und an welchen Stellen gibt es selbstausgelöste Lawinen? Einer dieser problematischeren

Hänge liegt nun vor den Tourengehern und soll am kommenden Morgen überschritten werden: die Querung unter dem Karhorn, raus aus dem Skigebiet Warth und hinüber nach Lech, den zwei Orten, die seit dieser Saison auch durch einen neuen Lift verbunden sind. Auf die Frage von Bergführer Schaupp, welche Teilnehmer sich diese Passage trotz der starken Vereisung zutrauten, schauen die meisten etwas verunsichert. »Wie soll ich das von hier aus wissen, wenn ich nur die Karte sehe?«, fragt einer. Und somit wird letztlich der Beschluss gefasst, am kommenden Tag gemeinsam zu der kritischen Stelle aufzusteigen und erst dort zu entscheiden, ob sich alle die weitere Strecke zutrauen, oder ob die Gruppe einen größeren Umweg einschlägt.

Hochsteigen ist eh nur »notwendiges Übel«

Als die Tourengeher am nächsten Morgen bei blauem Föhn-Himmel den Berg empor- steigen und den Hang in der Morgensonne glitzern sehen, wirkt er weniger bedrohlich als noch beim abendlichen Kartenlesen. Auch die Lawinenwarnstufe steht auf eins, der Schnee ist überall gesetzt und über Nacht hartgefroren. So ist der Hang trotz der größeren eisigen Stellen gut zu passieren. Alle neun Tourengeher schaffen die Querung ohne Probleme und gelangen nach einer langen Abfahrt in das Skigebiet von Lech. Dort nehmen sie zunächst einen Lift, um von Alpe Rauz zum Nachtlager auf die Ulmer Hütte zu gelangen. Puristen würden über Fahrten mit Sesselliften auf einer Transalp die Stirn runzeln. Doch Schaupps Gäste sind begeistert. »Für mich ist das Hochsteigen eh nur notwendiges Übel«, sagt etwa Oliver Zschunke. Er war früher einmal einer der besten deutschen Speerwerfer, doch heute leitet er seine eigene Zahnarztpraxis und plant eher beruflich den großen Wurf. »Warum soll ich mich noch quälen, das coolste ist doch eh das Runterfahren im Pulverschnee.«

Doch bald muss auch Zschunke auf die Zäh- ne beißen. Denn schon am nächsten Tag merkt die Gruppe, wie schnell sich die Lage in den Bergen ändern kann: Der Föhn, der beim Start im Allgäu noch ein angenehmes, warmes Lüftchen war, pfeift auf bald 3000

Metern Höhe mit 100 Kilometern pro Stunde über die Gipfel. Über das Smartphone eines Tourengehers kommt dazu passend die Nachrichtenmeldung: »Sieben Tote bei Lawinen in den Alpen!« Zwar herrscht in den meisten Regionen nur Lawinenwarn- stufe eins bis zwei. Doch zwei Faktoren haben ausgereicht, dass Tourengeher mehrere tödliche Lawinen auslösten: starke Windverfrachtungen des Schnees und schlechte Sicht – genau die Situation, mit der auch die Gruppe auf dem Weg nach Italien nun konfrontiert ist.

Somit wird auch Bergführer Schaupp nun besonders vorsichtig und holt sich zunächst genauere Informationen im Internet. Dabei kommt ihm zugute, dass er früher als Ingenieur Lawinenverbauungen im Gebirge plante und somit auch viel theoretische Erfahrung mit Schneerutschen hat. Zudem arbeitete er in einer Zentrale für Hochwasser-Vorhersagen und kann Rohdaten aus Wetterstationen gut interpretieren. Daher lädt er auf einem Smartphone zusätzlich zum Lawinenlagebericht auch die Webseite wetterzentrale.de, eine Datensammlung für Meteorologen. Dort findet er unter anderem Vorhersagen über die Wolkendichte in verschiedenen Höhen, heruntergebrochen auf einen Drei-Stunden-Takt. Somit kommt er zu einer düsteren Prognose: »Wir bekommen hohe Wolken, die die Sonne nicht durchlassen, und auch weiter unten wird die Sicht mittelmäßig.«

Um sich Orientierungshilfen für den kommenden Tag zu schaffen, beginnt Schaupp, Den Sturm gut überstanden: Beim Aufstieg auf die Rossfallscharte ist die Gefahr vorüber. 42 Markierungspunkte der geplanten Etappe von einer Landkarte in sein GPS-Gerät einzutippen. So kann er etwa bei Nebel auf einem kleinen Bildschirm prüfen, ob er vom Weg abkommt.

Heftige Windböen

Gerüstet mit 15 Reserve-Batterien, die auch bei den Temperaturen von minus sieben Grad Celcius ausreichend lange halten, zieht er am nächsten Morgen mit der Gruppe los. Doch als sie die Ulmer Hütte nahe St. Anton verlassen haben und über die Rossfallscharte ins abgelegene Malfontal gestiegen sind, klingt Schaupp ungewohnt angespannt. »Das isch jetzt kein Kinderspiel!«, warnt er am Fuße eines 500 Meter hohen Nordhangs. Dann kommt die Frage, die naheliegt – und die doch keiner erwartet hatte: »Wer leitet die Suche, falls uns eine Lawine erwischt?« Schaupps Gäste blicken etwas bleich durch das Schneetreiben. Plötzlich wirkt der Pulverschnee nicht mehr so cool, wie ihn Zahnarzt Zschunke vor wenigen Tagen noch be- jubelt hatte. Letztlich erklärt sich einer aus der Gruppe bereit, die Verantwortung für eine mögliche Lawinensuche zu über- nehmen – und der Anstieg beginnt

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Je näher die Gruppe an den Bergrücken kommt, desto stärker bläst ihnen der Wind entgegen. Mehrere Tourengeher geraten ins Schwanken, als sie bei ihren Spitzkehren von Böen erfasst werden. Doch letztlich erreichen alle die Scharte, die sie ins Ski- gebiet Kappl führt. Am Ende des Anstiegs jubeln einige los und recken ihre Arme in den Himmel über dem Paznauntal – aus Freude, wegen des Überschusses an Adrenalin oder einfach aus Lust am Männerritual. Und dann kommt auch Tiefschnee-Fan Zschunke zu seinen Abfahrten. Dafür muss er am nächsten Tag noch einmal von der Heidelberger Hütte, vorbei am Piz Tasna und durch die Silvretta insgesamt 1300 Höhenmeter aufsteigen. Doch wird er belohnt mit einer langen Abfahrt durch unverspurten, lockeren Schnee.

Als er und seine Gruppe dann in Scuol in Graubünden ankommen, gelangen sie zum Schweizerischen Nationalpark, an dessen Rand ihre letzte Unterkunft liegt. Dorthin führt eine neun Kilometer lange, verschneite Straße, die kein Auto im Winter passie- ren kann. So steigen die Tourengeher im Bergdorf S-charl in zwei Pferdeschlitten, in denen dicke Felle und frisch gefüllte Wärmflaschen für sie bereitliegen.

Am kommenden Morgen liegt nur noch ein kurzer Aufstieg zur italienischen Grenze vor ihnen, anschließend fahren sie nach Taufers in Südtirol ab. Müde kommen sie dort an – doch zugleich euphorisiert. So vergeht nicht einmal eine Woche nach der Tour, bis sich Tiefschnee-Fan Zschunke per Mail an die ganze Gruppe wendet: »Wie wäre es, wenn wir gemeinsam die Haute Route machen?«, fragt er und begeistert sich sogar für die Strapazen der Anstiege: »Die zieht uns dann die letzten Körner aus dem Körper!«

Foto: Lech-Zürs Tourismus, Sepp Mallaun